Shenmue

Entwickler:  AM2/Sega
Vertrieb:  Sega
Genre:  Actionadventure
Spieler:  1
System:  Dreamcast

Story



Nun ist es also endlich im Handel, Segas heiß ersehntes Vorzeigespiel. Lange als "Killerapplikation" angekündigt, soll es die PS2 das Fürchten lehren und aller Welt zeigen, was wirklich in der Dreamcast steckt. Zu allererst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass dieser Test erst so spät fertig wurde, doch zum einen kam mir die Schließung des Joker Verlags (meines bisherigen Arbeitgebers) in die Quere, zum anderen jedoch wollte ich mir meiner Sache absolut sicher sein und alle drei GDs des Spiels (die vierte dient hauptsächlich als Movieplayer und Internetzugang) durchgespielt haben...

Hauptfigur von Shenmue und Alter Ego des Spielers ist der jugendliche Ryo Hazuki, welcher 1986 zusammen mit seinem Vater, einem geachteten Karatelehrer, in einem verschlafenen Vorort der japanischen Hafenstadt Yokosuka lebt. Gleich im Intro wird dieser vor den Augen seines Sohnes im Zweikampf getötet, die Mörder entkommen mit einem geheimnisvollen Drachenspiegel. Nachdem sich Ryo einige Tage später von seinen eigenen Verletzungen erholt hat, macht er sich auf die Suche nach dem Killer. Zu Anfang sind die verfügbaren Informationen eher spärlich gesät: Die schwarze Limousine der Gangster ist praktisch der einzige Anhaltspunkt, über den die Nachbarn ausgefragt werden können, glücklicherweise kann ihre Spur jedoch in den nächsten Stadtteil zurückverfolgt werden. Dort jedoch verlieren sich die Hinweise, und man versucht, mit Hilfe seines aufgeschnappten Namens dem Attentäter auf die Spur zu kommen.

Nachdem man sich durch die chinesische Bevölkerung gefragt, etliche Aufträge und noch viel mehr Minispielchen absolviert hat, werden nach und nach die Zusammenhänge klar: Lan Di ist Mitglied (Anführer?) einer chinesischen Verbrecherorganisation und auf der Suche nach zwei legendären Spiegeln, dem Dragon und dem Phoenix Mirror. Leider scheint der Bösewicht bereits nach Hong Kong zurückgekehrt zu sein, weshalb sich Ryo umgehend ein Ticket dorthin besorgt. Leider vereitelt ein mysteriöser (und optisch nicht gerade attraktiver) Ninja diese Pläne. Um ihn aufzuspüren, sucht man sich Arbeit im Hafen von Yokosuka und mischt die dortige Gang gehörig auf. Viele Verwicklungen später befindet sich Ryo auf dem Weg nach Hong Kong, und Kapitel eins der Saga ist abgeschlossen. Wie - Kapitel eins? Ganz recht: Das gesamte Epos wird laut Planung 16 Abschnitte umfassen, Teil zwei soll noch im Januar in Japan erhältlich sein. So erklären sich vermutlich auch die immensen Kosten von umgerechnet 220 Millionen Mark für die Produktion: Nachdem die grundlegenden Arbeiten nun getan sind, wollen wir hoffen, dass die restlichen Teile schneller und vor allem auch bald in Europa erscheinen!

Gameplay



Wer jetzt denkt "Dieser blöde Ziegler, was verrät er mir die Story?", sei beruhigt: "Shenmue" enthält derart viele überraschende Wendungen und Lösungswege, dass jedes Durchspielen einzigartig ist. Hierzu muss man wissen, dass "Shenmue" tatsächlich mehr als ein Spiel, ja, fast schon eine Lebenssimulation ist. Wie im richtigen Leben schreitet die Zeit unerbittlich voran, stets gibt es etwas zu tun in dieser für den durchschnittlichen Mitteleuropäer doch recht fremdartigen Welt, und das Beste: Sie scheint wirklich zu leben! Jeder der rund 500 auftauchenden Charaktere führt ein Eigenleben, Busse halten sich an Fahrpläne, Geschäfte an ihre Öffnungszeiten. Kinder gehen vormittags zur Schule und spielen am Nachmittag auf der Straße - natürlich nur bei schönem Wetter! Da das Spiel jedoch am 1. Dezember beginnt, kommt es oftmals zu Regen- und Schneefall, woraufhin sich die Leute selbstverständlich nur mit Regenschirmen aus dem Haus wagen.

Einzigartig sind auch die Möglichkeiten der Interaktion. Zwar haben die meisten Passanten nicht sonderlich viel zu erzählen, doch können sie alle angesprochen werden. Per Telefon ruft man seine Freundin oder zu Hause an, auch Auskunft und Wettervorhersage fehlen nicht. An Getränke-Automaten erhält man fünf verschiedene Erfrischungen, manche dieser Dosen sind sogar mit Gewinnnummern markiert. Diese lassen sich in Läden gegen ein Los oder im Internet (zugänglich durch GD 4) gegen kleine Figuren der Helden eintauschen. Aus sechs verschiedenen Arten von Kaugummiautomaten erhält man Sammelfiguren anderer Sega-Spiele, wobei kleine Anachronismen ("Virtua Fighter" oder ein Saturn im Fernsehschrank gab es 1986 selbst in Japan noch lange nicht) gerne verziehen werden. Nun, warum dann ausgerechnet das Jahr 1986? Ein Gang in die örtliche Spielhalle beantwortet die Frage: Dort befinden sich neben zweierlei Darts-Geräten (na schön, eins davon steht im Hafen), einer Musikbox sowie zwei witzigen Replikaten früher Reaktionstester auch die Sega-Automaten "Hang On" (1985) und "Space Harrier" (1986), welche ebenfalls der Feder des Shenmue-Designers Yu Suzuki entstammen. Diese beiden Games sind per eingebautem Emulator voll spielbar!

Und selbst damit wären wir noch immer nicht am Ende der Möglichkeiten angelangt: eine weitere Spielhalle bietet Slot Machines, wo an einarmigen Banditen um Tokens gespielt wird, in einer anderen Bar darf man sein Können mit einem einzelnen Billard-Stoß unter Beweis stellen, und nicht zuletzt kümmert man sich noch um eine kleine Katze, die von den bösen Buben am Tag des Überfalls angefahren wurde... Die Liste ist beinahe endlos.

Hinzu kommt ein über weite Strecken geradezu geniales Gamedesign. Ein Beispiel: Ryo erhält einen Brief, in welchem seinem Vater geraten wird, sich mit einem gewissen Meister Chen in Verbindung zu setzen. Auch die Parole liegt bei, wählt man jedoch die angegebene Telefonnummer, erhält man lediglich den Hinweis auf ein "Warenhaus Nummer 8". Da man als "Tomb Raider"-gestählter Spieler ja kaum mehr gewohnt ist, selbstständig zu denken, rennt man blind durch das Dorf und befragt Passanten und Händler zu dem genannten Stichpunkt. Natürlich weiß niemand etwas mit einem derart nichtssagenden Hinweis anzufangen, doch erhält man irgendwann den Rat, einfach einmal die Telefonauskunft zu befragen.

Ärgerlich darüber, dass einem das nicht schon früher eingefallen ist, begibt man sich zum nächsten Apparat, erfährt jedoch, dass anhand einer Nummer noch nicht die Adresse ausfindig gemacht werden könne. Nun kann man sich einmalig nach weiteren Stichpunkten wie "Warenhaus" und "Meister Chen" oder aber dem Stadtteil erkundigen, welcher auch prompt aus den ersten beiden Ziffern ersichtlich ist. Wählt man jedoch eine andere Frage, endet die Auskunft erneut in einer Sackgasse. Also rennt man wieder verzweifelt durch die Gegend, bis es den Befragten zu dumm wird: "Sag mal, hast du kein Telefonbuch zu Hause?" Und tatsächlich, wenn man sich das Telefonschränkchen genauer ansieht, findet man nicht nur eine Taschenlampe (zu dem Zeitpunkt hatte ich mir leider bereits eine gekauft, grrr!), sondern auch das besagte Telefonbuch. Wäre man gleich zu Anfang auf diese Idee gekommen, hätte man sich viel Laufarbeit ersparen können. Dennoch bestand nie die Gefahr, endgültig stecken zu bleiben.

Leider birgt dieses "Simulationsprinzip" auch seine Tücken. So ist man beispielsweise relativ oft gezwungen, die Zeit mit Einkäufen und Trainingsstunden (erhöhen die Effektivität der erlernbaren Martial-Arts-Moves) tot zu schlagen, weil ein Treffen erst für den nächsten Tag arrangiert ist oder ein bestimmter Laden bereits geschlossen/noch nicht geöffnet hat. Dummerweise darf man auch nicht vor Einbruch der Nacht schlafen gehen, und gespeichert wird typischerweise nur im eigenen Zimmer. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Steuerung: Die Bewegung mittels digitalem Steuerkreuz erfordert viel Eingewöhnung, und auch das Umsehen auf Tastendruck dürfte ruhig etwas einfacher von der Hand gehen. Wirklich störend ist jedoch, dass praktisch keines der zahlreichen Minispielchen wirklich optimal zu steuern ist: Ob Gabelstaplerrennen oder 70-Mann-Schlägerei (ein Heidenspaß!), irgendwo hakt es immer ein bisschen...

Das gilt jedoch nicht für die wichtigen, spielentscheidenden Reaktionstest, kurz QTE (Quick Time Events) genannt. Hier wird kurz eine Taste oder Richtungsangabe eingeblendet, welche der Spieler zu drücken hat. Als Reaktion weicht Ryo beispielsweise geschickt einem Wurfgeschoss aus, springt über ein Hindernis oder tritt einen Rocker von seinem Motorrad. In den meisten Fällen sind diese Aktionen so schön choreographiert, dass auch ein gelegentliches Versagen noch ausgeglichen werden kann. So darf man beispielsweise ruhig einen Schlag einstecken, wenn man den nächsten dafür ordentlich abblockt und den betreffenden Schergen per Kinnhaken sauber auf die Bretter schickt. Selbst wenn man komplett versagen sollte, besteht kein Grund zur Panik: Jede Sequenz wird automatisch so lange wiederholt, bis man sie einigermaßen ordentlich bewältigt hat.

Präsentation



Soweit ich mich erinnern kann, habe ich in über 250 Konsolentests noch niemals die Höchstnote 10 für die Grafik vergeben. Auch "Shenmue" hat seine kleinen Macken, dennoch wäre es kleinlich, hier nicht die Traumwertung zu zücken: Ja, oftmals (speziell beim Gabelstaplerfahren im Schneefall) geht das Spiel merklich in die Knie. Ja, viele bewegliche Objekte (Personen, Gefährte) werden erst kurz vor dem Spieler eingeblendet. Nein, es gibt keine einzige vorgerenderte Sequenz als Belohnung. Aber: Die in Echtzeit berechnete Grafik ist derart liebevoll, detailliert, kurz: umwerfend in Szene gesetzt, dass keiner dieser Kritikpunkte wirklich ins Gewicht fällt.

Als Beispiel sei der Aufwand bei der Texturierung der verschiedenen Gebäude genannt: Keines gleicht dem anderen, und zwar sowohl von außen als auch von innen. Wer sich in einer der verrauchten Bars umsieht, bemerkt, dass an manchen Stellen Wasser durch die undichten Wände gedrungen ist und die aufgeweichten Tapeten Schimmel angesetzt haben. Aufgrund dieser Detailverliebtheit fällt es dem Spieler nicht schwer, sich komplett in Ryos Welt hineinzuversetzen und sich dort auch zurechtzufinden, was angesichts der verwinkelten Gässchen und zahlreichen Läden zunächst kaum glaublich ist. Doch damit nicht genug: Auch die dargestellten Personen unterscheiden sich dergestalt, dass man noch im Vorüberhetzen denkt: "Ah, das war Yamagishi-san. Und das dort ist der Vater des Friseurs. Hey, da steht Nozomi, mit der hab' ich mich ja schon ewig nicht mehr unterhalten." Welches Spiel bietet schon so etwas?

Doch damit nicht genug. Auch die in Spielgrafik dargestellten Zwischensequenzen warten noch mit einigen Überraschungen auf. Angefangen beim physikalisch korrekten Schattenwurf mehrerer Lichtquellen bis hin zu cineastischen Verwisch-Effekten brauchen sich diese (nicht abbrechbaren) Videos nicht hinter den Rendermovies der Konkurrenz zu verstecken. Eine absolut professionelle Kameraführung sowie hübsche Kleinigkeiten wie verblasste Farben in Flashback-Szenen runden das Bild ab.

Gegen die optische Pracht fällt die Soundbegleitung unglücklicherweise spürbar ab. Der prinzipiell überdurchschnittlich gute Soundtrack wird durch einige recht dünne Stücke beeinträchtigt, noch gravierender sind die Mängel bei der englischen Sprachausgabe. So ist es prinzipiell ja sehr lobenswert und für ein Konsolenspiel leider noch immer nicht selbstverständlich, dass wirklich jeder Dialog von einem Synchronsprecher wiedergegeben wird, doch klingen die meisten Stimmen furchtbar gekünstelt. Nun, zumindest die Hauptfiguren wurden recht annehmbar besetzt, doch rauben einem die phlegmatischen/hysterischen Kommentare der anderen Zeitgenossen schon bald den letzten Nerv. Schade auch, dass keine deutschen Untertitel das Verständnis erleichtern, lediglich englische Dialoge lassen sich einblenden...

Ergebnis



Tja, die Bewertung von "Shenmue" fällt mir vergleichsweise schwer, da ich persönlich das freie Spielprinzip mit den zahlreichen Bonus-Ereignissen sehr genossen habe, jedoch auch von gegenteiligen Erfahrungen anderer Spieler weiß. Dazu kommt, dass das Game in ca. 25 Stunden recht zügig durchgespielt ist und keinen echten Abschluss findet, sondern vielmehr nur den Auftakt für die kommenden Kapitel bildet. Dennoch: Wer eine Dreamcast sein Eigen nennt, sollte sich auch "Shenmue" holen und sich zumindest kurzzeitig in eine faszinierende fremde Welt entführen lassen. Als Belohnung dürfen auch sämtliche erzielten Bestleistungen (Darts, Gabelstapler, Spielautomaten etc.) ins Internet gestellt und mit der Konkurrenz aus Deutschland, Europa oder der ganzen Welt verglichen werden. Hier lassen sich selbst kleinste Details (wieviele Münzen wurden in die Slot Machine Nummer 8 gesteckt?) abrufen, was zumindest kurzfristig noch für Spannung sorgt. Um es auf den Punkt zu bringen: "Shenmue" sollte man einfach gesehen haben, hier wartet ein völlig neuartiges Spielvergnügen! (Markus Ziegler)

Wertung